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Johannes Sommer
CEO, Retresco
Kaum ein Thema wird in der Medienbranche derzeit so intensiv diskutiert wie der Einsatz von KI-Agenten. Doch was steckt hinter dem Hype? Lässt sich agentische KI sinnvoll, zielgerichtet und verlässlich in redaktionelle Prozesse integrieren – oder bleibt es bei einem bloßen Versprechen?
Redaktionen stehen vor einer doppelten Herausforderung: Einerseits wächst die Informationsflut, weniger Ressourcen, immer kürzere Veröffentlichungszyklen sowie steigende Anforderungen an personalisierten Angeboten und multimodaler Content schrauben die Anforderungen an redaktioneller Arbeit nach oben. Andererseits ist eine gezielte Automatisierung mithilfe Künstlicher Intelligenz unerlässlich – jedoch ohne Kompromisse bei der journalistischen Qualität.
Hier kommen KI-Agenten ins Spiel: Sie versprechen mehr Effizienz sowie Unterstützung bei der Erstellung und Distribution von Inhalten. Dieser Beitrag gibt eine Einschätzung aus der Praxis und geht auch mögliche Einsatzszenarien im medialen Alltag ein.
KI-Agenten gelten als KI 2.0. Im Vergleich zu herkömmlichen KI-Anwendungen, die konkrete Anweisungen und Aufgaben umsetzen, verfolgen Agenten eigenständige Ziele und treffen autonome Entscheidungen – basierend auf mehreren Prozessschritten und dynamischer Anpassung. KI-Agenten handeln nicht nur reaktiv, sondern agieren autonom in komplexen Situationen und unübersichtlichen Konstellationen – mit dem Versprechen, ganze Prozessketten automatisiert zu managen.
KI-Agenten arbeiten grundsätzlich nicht deterministisch und erfüllen vorgegebene Aufgaben autonom: Sie analysieren Situationen und Kontext und planen daraufhin eigene Handlungsschritte, laden relevante Daten und justieren ihre Entscheidungen im Verlauf der Bearbeitung immer wieder nach.
Diese agentischen Fähigkeiten basieren auf einem Zusammenspiel unterschiedlicher Technologien:
Auch RAG-Systeme („Retrieval-Augmented Generation“) sind grundsätzlich agentisch. Sie verbinden generative KI mit verifiziertem, abrufbarem Wissen aus Datenbanken, Archiven oder Dokumenten – ein wichtiges Element für den Einsatz im Medienkontext. Dies ermöglicht es, der Leserschaft automatisiert und interaktiv Inhalte zur Verfügung zu stellen, ohne dass redaktionelles Zutun erforderlich ist.
Allerdings sind KI-Agenten keine „erweiterten Prompt-Responder“. Während einfache LLM-Anwendungen stark von der Qualität einzelner Prompts abhängen, agieren Agenten iterativ. Sie interagieren mit ihrer Umgebung, nutzen externe Tools und Datenquellen, analysieren Feedback und verbessern ihren „Modus vivendi“ über mehrere Zyklen hinweg.
Nachfolgend ein Beispiel dafür, wie ein selbstlernender Themenradar als KI-Agent im Medienumfeld operieren kann. Der Agent analysiert kontinuierlich unterschiedlichste externe Datenquellen, erkennt relevante Themen und Stimmungen in Echtzeit – und durchläuft dabei eigenständig folgende Arbeitsschritte:
Der KI-Agent sammelt Inhalte in großen Mengen aus vielfältigen Quellen wie Nachrichtenportalen, Social Media, RSS-Feeds, Blogs, Foren und Datenbanken. Ziel ist eine möglichst breite und aktuelle Datenbasis.
Die vorliegenden Rohdaten werden bereinigt, klassifiziert und in ein einheitliches Format gebracht: Datendubletten werden entfernt, Sprache und Entitäten werden vereinheitlicht, Schlüsselelemente identifiziert (Named Entity Recognition (NER)) und Medienarten determiniert.
Mithilfe von NLP-Algorithmen identifiziert die agentische KI thematische Verdichtungen und bündelt vergleichbare Inhalte zu Themenclustern.
Das System bewertet, wie stark sich Themencluster entwickeln, welche Inhalte vermehrt Aufmerksamkeit (z. B. Shares, Publikationsfrequenz oder Tonalität) erhalten und inwieweit es sich um neue oder wiederkehrende Themen handelt.
Der agentische Algorithmus erkennt die Tonalität (positiv, neutral, negativ) und erfasst den thematischen Kontext (z. B. Events, Akteure, Meinungen, Ereignisse oder Interdependenzen)
Durch Rückmeldungen der Redaktion (z. B. welche Themen übernommen oder verworfen werden) und durch regelmäßige Nutzerinteraktionen optimiert sich der KI-Agent auf Themengewichtung, Clustering und Relevanz.
Die Ergebnisse werden der Redaktion regelmäßig per Alerts, Dashboards oder API bereitgestellt – und damit journalistisch für Themenpläne, Content-Strategien und Ableitungen nutzbar.
Aktuell wird viel ausprobiert, und erste Einsatzfelder mit echtem Mehrwert zeichnen sich ab – jenseits von Hype und Buzzwords.
KI-Agenten ersetzen keine Redaktion – und werden das auch nicht. Aber sie können redaktionelle Prozesse sinnvoll erweitern, indem sie als lernfähige, autonome Assistenzsysteme agieren. Das Medienhaus Ippen Digital gehört zu den Vorreitern im deutschsprachigen Raum, wenn es um den Einsatz von KI-Agenten im redaktionellen Umfeld geht.
Ippen Digital experimentiert bereits seit längerem mit agentenbasierten Workflows, um redaktionelle Prozesse effizienter, flexibler und skalierbarer zu organisieren. Im Zentrum steht die Idee eines „externen zweiten Gehirns“ – ein intelligentes, KI-gestütztes Assistenzsystem, das Redaktionen bei Recherchen, Themenentwicklung und Inhaltsproduktion unterstützt. Dieses System basiert auf dem Konzept eines sogenannten Exokortex: Dieser agiert wie ein digitaler Co-Worker, der Aufgaben mitdenkt, Prozesse begleitet und Teilaufgaben eigenständig übernimmt. Die technologische Grundlage bilden Sprachmodelle von OpenAI, Anthropic sowie Daten aus der eigenen Publishing-Infrastruktur.
Redaktionsaufgaben werden in kleinere Teilaufgaben (also Prompts) zerlegt. Diese Prompts werden gezielt miteinander verknüpft („Prompt Chaining“), sodass aus dem Output in Einzelschritten ein zusammenhängendes, nutzbares Ergebnis entsteht. Ein Beispiel: Bei Themenrecherchen erstellt der KI-Agent zunächst mehrere Einzelauswertungen – etwa zur Quellenlage, zu Expertenmeinungen oder zum historischen Kontext. Anschließend werden Antworten zu einem belastbaren Überblick verdichtet. So werden nicht nur agentische Rechercheprozesse ermöglicht, die nicht nur schnellere Ergebnisse liefern, sondern auch inhaltlich strukturiert arbeiten – bei gleichzeitiger redaktioneller Kontrolle der Inhalte (Human-in-the-Loop).
Die agentenbasierten Workflows bei Ippen Digital sind softwarebasiert, modular aufgebaut und kontinuierlich erweiterbar. Ziel ist es, hochwertige Inhalte in kurzer Zeit zu erstellen – ohne Abstriche bei den redaktionellen Standards hinzunehmen.
So setzt Ippen auch bereits KI-Agenten im SEO-Bereich ein. Für eine erfolgreiche Suchmaschinenoptimierung sind klar definierte Regeln unerlässlich. Die agentische KI ist in der Lage, Aufgaben effektiv umzusetzen, wobei sie bereits selbst Vorschläge erstellt – etwa zur Textoptimierung auf Basis von Leserdaten.
Bei der Content-Erstellung arbeiten die Ippen-Agenten für autonome Aufgaben mit belastbaren KPIs, etwa Scrolltiefe, Leseabbrüche oder Interaktionen. Diese Daten dienen als Feedbackschleife – vergleichbar mit Reinforcement Learning. Zeigt ein Artikel etwa im dritten Absatz eine besonders hohe Abbruchquote, erkennt der KI-Agent das Muster und schlägt Redakteur:innen gezielt eine Überarbeitung vor – oder generiert sogar selbst eine alternative Passage. Das ist Human-in-the-Loop im besten Sinne: Die KI liefert Impulse, die Redaktion trifft die letzte Entscheidung.
Ein weiterer spannender Use Case kommt aus dem audiovisuellen Umfeld: Der Bayerische Rundfunk (BR) nutzt agentische KI experimentell, um Nachrichteninhalte automatisiert in Videotext-Meldungen zu überführen. Hierbei werden Agenturmeldungen und Korrespondentenberichte textlich so aufbereitet, dass sie direkt publiziert werden können – allerdings auch hier redaktionell kontrolliert. Der agentische Prozess ist in neun Teilschritte strukturiert – etwa zur Informationsextraktion, Kürzung, Textgenerierung oder Qualitätskontrolle. Die Redaktion steuert die Agenten mit passgenauen Prompts, prüft die Ergebnisse und nimmt bei Bedarf manuelle Anpassungen vor.
Unsere Einschätzung: In den kommenden ein bis zwei Jahren müssen KI-Agenten ihren konkreten Mehrwert unter Beweis stellen. Nachfolgend vier Einsatzfelder, in denen das gelingen kann:
Themenfindung zählt zu den aufwendigsten Aufgaben im Redaktionsalltag. KI-Agenten können solche Prozesse datengetrieben unterstützen:
KI-Agenten kommen ins Spiel, wenn es darum geht, einzelne Beiträge kanalübergreifend in ein vernetztes Content-Asset für mehr Reichweite zu gießen:
KI-Agenten übernehmen hier die Rolle intelligenter Assistenzsysteme – ohne redaktionelle Verantwortung zu ersetzen:
Agentische Systeme können Inhalte zielgruppengerecht aussteuern:
Die Diskussion um KI-Agenten im Journalismus ist nicht nur technologischer Natur – sie ist auch mit ethischen und rechtlichen Fragen verbunden. Denn unabhängig von den Potenzialen solcher KI-Systeme ist es unerlässlich, ihre Grenzen und Risiken realistisch einzuschätzen. Der verantwortungsvolle Einsatz agentischer KI verlangt ein hohes Maß an Sorgfalt – nicht zuletzt, weil es um redaktionelle Glaubwürdigkeit, Transparenz und Standards geht.
Generative KI im Allgemeinen und KI-Agenten im Besonderen kämpfen mit Halluzinationen. Die Systeme erzeugen sprachlich plausible, statistisch basierte Outputs. Bei agentischer KI, die komplexe und vielschichtige Aufgaben autonom und mehrstufig ausführt, steigt das Risiko: Fehler in einer Verarbeitungsphase können sich unbemerkt auf nachfolgende Prozessschritte auswirken. Deshalb bleibt ein redaktionelles Monitoring unerlässlich. Kurzum: An Human-in-the-Loop führt auch für KI-Agenten kein Weg vorbei.
Journalistische Verantwortung ist nicht delegierbar. Gerade in Zeiten von Informationsüberfluss, Fakes News und wachsender Skepsis gegenüber Medienangeboten dürfen eigenständige KI-Agenten nicht zur Aufweichung redaktioneller Prinzipien führen.
Vielmehr gilt es für jedes Medienhaus folgende Fragen zu klären:
Auch wenn KI-Agenten aktuell überwiegend in Pilotprojekten oder Testumgebungen erprobt werden und mit rechtlichen sowie ethischen Hürden kämpfen, ist ihr transformatives Potenzial für den Journalismus grundsätzlich unübersehbar. Hierbei geht es nicht nur um die Automatisierung einzelner Arbeitsschritte, sondern um den möglichen Wandel redaktioneller Produktionslogiken: weg von linear strukturierten, manuell angestoßenen Abläufen – hin zu dynamischen, datengetriebenen Systemen, in denen KI-Agenten als aktive, operative Partner im redaktionellen Prozess mitwirken.
Denkbar ist, dass sich mittelfristig agentische Content-Ökosysteme etablieren: Autonome Systeme, die nicht nur KI-basierten Output zur Verfügung stellen, sondern auch miteinander interagieren, Informationen austauschen und sich Aufgaben zuweisen – eingebettet in ein Human-in-the-Loop-Konzept, das eine redaktionelle Kontrolle jederzeit sicherstellt.
In der Praxis stehen allerdings viele Medienhäuser erst am Anfang dieser Entwicklung. Die eigentliche Herausforderung liegt nicht in der Technologie, sondern in den redaktionellen Realitäten. Ohne qualitativ hochwertige, zugängliche Daten, klar definierte Prozesse sowie ein tiefes Verständnis der eigenen redaktionellen Workflows kann keine KI sinnvoll operieren. Es müssen Fragen geklärt werden wie: Welche Daten und Content-Pools stehen immer wieder aufs Neue strukturiert und in hoher Qualität zur Verfügung? Welche Besonderheiten gilt es in der jeweiligen Redaktion zu berücksichtigen? Welche Aufgaben will und darf die Redaktion an die agentische KI übergeben?
Es geht nicht darum, „mal eben“ einen KI-Agenten zu bauen – sondern darum, Prozesse und Workflows so zu gestalten, dass agentische Assistenz überhaupt einsetzbar ist. Viele Medienhäuser sind in ihrer Prozessreife dafür noch nicht ausreichend aufgestellt. Selbst in fortgeschrittenen Organisationen beschränken sich die Einsatzmöglichkeiten häufig auf klar umrissene Anwendungsfälle oder einzelne Teams.
Daher lautet meine Empfehlung: Statt vorschnell in komplexe Agentenarchitekturen zu investieren, sollten Medienhäuser zunächst ihre bestehenden Strukturen optimieren – insbesondere im Hinblick auf Datenhaltung, Content-Management und redaktionelle Prozesse. Der größte Hebel liegt aktuell nicht in der Entwicklung neuer Systeme, sondern in der konsequenten Weiterentwicklung bestehender Workflows und KI-Anwendungen. Erst wenn diese Basis gegeben ist, kann agentische KI auf breiter Skala wirken – und sich als wirtschaftlich sinnvoll erweisen.
Klar ist: Auch KI-Agenten werden den Journalismus nicht ersetzen. Sie können aber – richtig eingesetzt – dabei helfen, redaktionelle Arbeit effizienter zu organisieren. Belastbare Agenten schaffen Freiräume für Recherche, Einordnung und Kreativität, indem sie Standardaufgaben übernehmen und Arbeitsabläufe beschleunigen.
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